Von seiner Mutter hatte Peter das weizenblonde Haar geerbt und die graublauen Augen, von seinem Vater die Liebe zum Kino. Und von beiden Eltern zusammen sein stilles Wesen. Peter hatte zwischen ihnen nie ein lautes Wort gehört, geschweige denn einen richtigen Streit miterlebt. Und selbst als in diesem Sommer Mutters Vertrauen zu Vater zerbrach, ging dies in aller Stille vor sich.
Peters Mutter war die Enkelin eines Orchesterleiters. Ihr Großvater hatte das Kurorchester eines Heilbades gegründet, das zu Zeiten der Monarchie berühmt für die Behandlung von Gelenksschmerzen war. Ihr Vater war Chefdirigent gewesen, der Bruder des Vaters erster Geiger. Auch Peters Mutter spielte Violine und einige andere Instrumente und sie hatte eine wunderschöne Singstimme. Sie war Musiklehrerin am Gymnasium der kleinen Stadt, in die es ihre Familie in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschlagen hatte. Peter wusste, dass es in ihrem Unterricht nicht nur um alte Musik ging, denn sie schwärmte für Elvis Presley, besonders für seine Liebeslieder. Manchmal nahm sie sich abends ihre Gitarre zur Hand und sang „Love me tender“ und „Can´t help falling in love with you“. Peter liebte es, ihr dabei zuzuhören. Zuweilen konnte er tagsüber beobachten, wie sie inmitten einer Tätigkeit, die sie gerade ausführte, innehielt und die Augen schloss. Dann hatte sie eine Melodie im Kopf und ließ sie durch ihren Körper schwingen.
Peters Vater sammelte Schallplatten mit der Musik aus Kinofilmen, besonders der aus spannenden Krimis. Abgesehen davon aber hörte auch er mitunter Melodien, die anderen Menschen entgingen. Diese Melodien hatten mit dem Rauschen des Windes in den Sträuchern und den Kronen der Bäume zu tun, denn Peters Vater war Gärtner. Den Betrieb, den er führte, hatte er von seinem Vater übernommen. Dieser hatte ihn nach dem Krieg aufgebaut. Auf der Flucht vor den Russen war er in die kleine Stadt zurückgekommen, in der er sich drei Jahre zuvor auf Heimaturlaub in eine junge Frau verliebt hatte. Sein Pferd hatte gelahmt, er hätte unmöglich weiterreiten können. Aber als er erfuhr, dass er Vater eines mittlerweile zweijährigen Buben war, wusste er ohnehin, wo sein Platz war.
Seit dieser Zeit hatte Peters Großvater Alpträume vom Töten im Krieg. Oft stöhnte er im Schlaf. Er träumte, er wäre gelähmt, und er konnte nicht aufwachen, denn die schrecklichen Bilder in seinem Kopf wollten ihn einfach nicht freigeben. Großmutter musste ihn jedes Mal mit aller Kraft an der Schulter schütteln, um ihn wachzukriegen. Unter dem Eindruck dieser Träume hatte Großvater beschlossen, Gärtner zu werden. Er wollte den Frieden zum Ziehen von Blumen nützen, sagte er, wenn er auf seinen Beruf angesprochen wurde. Und je prächtiger die Blumen in seiner Gärtnerei blühten, desto seltener wurden die Alpträume in der Nacht.
Peter wuchs auf in einer kleinen Stadt, die umgeben war von bewaldeten Hügeln und Senken dazwischen, in denen es viele kleine Schotterseen gab. Im Sommer, in dem er dreizehn wurde, stürzte die amerikanische Weltraumstation Skylab vom Himmel. Sie war seit dem Mai des Vorjahres in einer Umlaufbahn von 435 Kilometern Höhe um die Erde gekreist. Peter hatte den Transport in den Orbit verfolgt und die technischen Schwierigkeiten, die dabei aufgetreten waren. Oft stellte er sich vor, einer der Astronauten zu sein: von hoch oben, in der Schwerelosigkeit des Alls, die Oberfläche des Blauen Planeten betrachten zu können, die Sterne zum Greifen nahe. Dann lebte er in der Welt seiner Fantasie und vergaß zumindest für einige Zeit die Sache mit Thomas, die ihm damals so sehr zu schaffen machte.
An den heißen Tagen dieses Sommers waren die tiefen Schotterseen mit ihrem kühlen Wasser wie geschaffen, um der Hitze ein Schnippchen zu schlagen. Doch Peter war auf der Hut vor den Jungen, die jeden Tag einen anderen dieser Schotterseen belagerten. Wenn er baden gehen wollte, schlich er sich an wie Lederstrumpf auf der Pirsch. Erst wenn er sicher sein konnte, dass dort niemand war, kam er näher. Das hatte sich Peter zur Gewohnheit gemacht, denn er hatte keinen Freund unter diesen Jungen. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Freund in seinem Alter, seit Thomas aus der kleinen Stadt weggezogen war.
Als er Gernot kennenlernte, änderte sich das und vieles mehr. Aber nicht alles, das sich änderte, war zum Besten.
|