Kerstin Dirks

 

Die Sturmjahre der Lilie - im Schatten der französischen Revolution

Historischer Jugendroman

 

Er schien für einen Augenblick überrascht und sah sie mit seinen großen, blauen Augen seltsam an. Konnte es wirklich sein, dass diesem Mädchen etwas an ihm lag? Nein, das war unmöglich. Er senkte den Kopf und schien erneut in Starre zu verfallen.

Annabelle seufzte und setzte sich auf den Stuhl zurück. Der Junge blickte sie nicht mehr an, sondern starrte traurig zu Boden.

„Was ist bloß los mit dir, warum bist du so seltsam?“
Was konnte sie nur tun, um ihn aus der Reserve zu locken?

Sie sah den jungen Grafen nachdenklich an: „Weißt du was? Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Meine Großmutter sagte immer, dass Geschichten die Menschen glücklich machen und ihnen dabei helfen, ihre Traurigkeit zu vergessen. Vielleicht klappt das ja auch bei dir? Die Geschichte, die ich dir nun erzählen werde, war eine meiner liebsten. Sie handelt von einer kleinen Prinzessin und einer Lilie.“

Sie sah den Jungen erwartungsvoll an, doch der Graf verzog keine Miene. Annabelle ließ sich davon nicht entmutigen und begann ihre Geschichte zu erzählen: „Ihre Eltern waren reich. Sie besaßen ein prächtiges Schloss und einen großen Garten. Die kleine Prinzessin ging oft in diesen Garten, um die Rosen zu bewundern.
Die Rosen waren die schönsten und prächtigsten Blumen und alle anderen Pflanzen sahen zu ihnen auf. Sie strahlten in einem herrlichen Rot und ihre Blüten waren so groß wie meine Hand und von außergewöhnlicher Schönheit“, Annabelle streckte ihm die Hand entgegen, damit er sich die Größe der Rosenblüten besser vorstellen konnte. Doch der junge Graf schenkte ihr noch immer keine Beachtung.

„Die kleine Prinzessin“, fuhr Annabelle fort, „konnte sie stundenlang betrachten, ohne sich dabei zu langweilen. Ihr Interesse galt nur diesen herrlichen Gewächsen. Sie nannte den Rosenstrauch insgeheim Königin des Gartens und sie bat den Gärtner, sich besonders um diese Pflanzen zu kümmern, damit sie nie verdorren würden.

Doch zwischen den stolzen Rosen wuchs etwas anderes. Es war nur klein und schien verwelkt. Die Wurzeln der Rosen entzogen der kleinen Pflanze das Wasser und die Sonnenstrahlen drangen kaum zu ihr durch, da sich die Rosen bedrohlich über sie beugten und in ihrem Schatten einhüllten. Die kleine Prinzessin entdeckte das Gestrüpp und hielt es für Unkraut.
Sie rief: „Gärtner, Gärtner! Eile er herbei und entferne dieses bösartige, kleine Gewächs, welches sich frech zwischen meinen geliebten Rosen ausgebreitet hat!“

Der Gärtner kam und betrachtete die kleine Pflanze genau.
„Euren Rosen droht keine Gefahr, meine Herrin“, stellte er schließlich fest.

Die Prinzessin geriet in Wut und sah den Gärtner böse an. Sie fand das Unkraut abscheulich und hässlich. Es hatte nichts zwischen ihren edlen Rosen zu suchen.
„Ich werde es herausreißen!“ schimpfte sie.
Ihre Hand schnellte zwischen dem dichtbewachsenen Rosenbusch hindurch und versuchte nach der kleinen Pflanze zu greifen. Doch noch ehe sie das Gestrüpp erreichte, zerrissen die Dornen der Rosen ihre Haut.

Das Mädchen schrie laut auf, zog ihren zerkratzen Arm zurück und starrte voller Entsetzen die schönen Rosen an, die es gewagt hatten ihr weh zu tun.

„Schneidet sie ab! Schneidet sie alle ab!“ befahl sie dem Gärtner in ihrer unbändigen Wut. „Sie sollen nicht mehr schön sein!“
Der Gärtner zögerte kurz, tat dann aber wie ihm geheißen und nahm den Rosen ihre wunderschönen Blüten.
Befriedigt kehrte das Mädchen ins Schloss zurück, doch schon am nächsten Tag bereute sie ihre Entscheidung. Es war nicht die Schuld der Rosen, es war die Schuld dieses bösen Unkrauts.

Sie eilte in den Garten, um das Unkraut herauszureißen. Doch als sie zu dem Rosenstrauch kam, stellte sie etwas fest. Etwas, dass sie zutiefst überraschte. Das Unkraut war gewachsen. Eine kleine Knospe hatte sich zwischen dem dichten, grünen Gestrüpp gebildet.

„Gärtner, Gärtner! Erkläre er mir, was hier vor sich geht. Warum erblüht das Unkraut?“
Der Gärtner kam und sah, was geschehen war. Die Sonnenstrahlen erreichten endlich die kleine Pflanze und gaben ihr das Licht, dass sie so lange benötigt hatte.
„Das ist kein bösartiges Unkraut, meine Herrin. Es ist eine Blume. Sie hat nur zu wenig Liebe und Pflege bekommen. Wenn Ihr Euch um sie kümmert, wird sie in all ihrer Schönheit für Euch blühen.“
Die Prinzessin war erstaunt und schien den Worten des Mannes kaum glauben zu können.
„Wollt Ihr für die kleine Blume sorgen?“ fragte der Gärtner und sah die Prinzessin erwartungsvoll an.
Das Mädchen nickte. Sie kam von nun an jeden Tag, um die Blume zu hegen. Sie gab ihr Wasser und beobachtete sie beim Wachsen.

„Gärtner, Gärtner! Ich glaube die Blume hat nicht genügend Platz zwischen all den Rosen!“ rief sie eines Tages, denn das Pflänzchen hatte an Größe gewonnen.
„Ihr müsst es umpflanzen, damit es nicht von den Rosen erdrückt wird“, erklärte der Gärtner.
Die Prinzessin sah ihn ängstlich an: „Und was, wenn mir die Blume weh tut, genauso wie diese Rosen?“ Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes.
„Versucht es, meine Herrin. Habt nur Mut!“
Das Mädchen nickte und versuchte, zu der Pflanze durchzudringen, ohne dabei die Dornen der Rosen zu berühren. Langsam grub sie die Blume mitsamt ihrer Wurzel aus.
„Seht ihr, junge Prinzessin? Eine Lilie kann Euch nicht weh tun.“
Sie befühlte den Stängel und stellte fest, dass daran keine Stacheln waren.

Das Mädchen suchte den schönsten Platz im Garten aus, um dort ihre Lilie einzupflanzen und schon bald erstrahlte diese in all ihrer Pracht und wurde zur schönsten und stolzesten Blume im ganzen Garten. Und all dies nur, weil man sich um sie gekümmert und ihr Liebe gegeben hatte. Da konnten ihr selbst die Rosen nichts mehr anhaben.“

Annabelle hielt inne. Der Graf sah sie wieder an. Auch wenn seine Augen nicht mehr leblos wirkten, so konnte sie noch immer die Traurigkeit in ihnen zu erkennen.

„Ich glaube, dass du wie diese Lilie sein könntest“, flüsterte ihm das Mädchen zu.

Sekunden vollkommener Stille vergingen, während Annabelles Blick unbeirrt auf dem traurigen Jungen haftete.
Der junge Graf schien zu spüren, dass Annabelle ihm nichts Böses wollte. Ganz im Gegenteil, sie war gekommen, um ihm zu helfen, da war er sich plötzlich ganz sicher.
Er schien einen Augenblick nachdenklich, doch dann tat er etwas, womit Annabelle nie im Leben gerechnet hätte.
Er schob den Stuhl zurück, kam auf sie zu und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Sie war viel zu überrascht, als dass sie es ihm hätte verwehren können. Seine Hand war blass und ungewöhnlich klein, so klein wie die ihre. Behutsam nahm er ihr die Zeichnung ab und hielt sie an eine Stelle, die ihm passend erschien.

„Da sieht es gut aus“, gab Annabelle zu.
„Es ist wunderschön“, vernahm sie plötzlich eine leise, sanfte Stimme, die wohl dem jungen Grafen gehören musste.
Sie sah ihn überrascht an: „Du redest ja?“ Er nickte, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern nahm das Bild und lief zu seinem Tisch zurück.

„Ich muss jetzt gehen. Ich lass dir die Zeichnung da!“ sagte sie schließlich und richtete sich auf.
„Kommst du mich wieder besuchen? Ich bekomme so selten Besuch“, flüsterte er und sah sie dabei fast flehend an. Annabelle dachte an die Worte der anderen, sie hielten ihn für besessen.
„Ohne die Prinzessin kann die Lilie doch nicht blühen“, hörte sie ihn sagen.
Er hatte ihr bisher nichts getan und Annabelle war sich sicher, dass sie auch künftig nichts vor ihm zu befürchten hatte. Also fasste sie sich ein Herz und nickte ihm zu: „In Ordnung. Ich komme wieder.“
Er lächelte sanft: „Bringst du dann auch Purpas mit?“
„Gern. Er wird sich freuen dich wiederzusehen... Sag mal, wie heißt du eigentlich?“
„Jean-Christoph“, antwortete er schlicht...

c) by Kerstin Dirks, all rights reserved

ISBN 3-935469-13-6
Wird im Frühjahr 2002 bei K&C; Buchoase erscheinen und kann bereits vorbestellt werden

 

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