Er schien für einen Augenblick überrascht und sah sie mit seinen großen, blauen Augen seltsam an. Konnte es wirklich sein, dass diesem Mädchen etwas an ihm lag?
Nein, das war unmöglich. Er senkte den Kopf und schien erneut in Starre zu verfallen.
Annabelle seufzte und setzte sich auf den Stuhl zurück. Der Junge blickte sie nicht mehr an, sondern starrte traurig zu Boden.
„Was ist bloß los mit dir, warum bist du so seltsam?“
Sie sah den jungen Grafen nachdenklich an: „Weißt du was? Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Meine Großmutter sagte immer, dass Geschichten die Menschen glücklich machen und ihnen dabei helfen, ihre Traurigkeit zu vergessen. Vielleicht klappt das ja auch bei dir? Die Geschichte, die ich dir nun erzählen werde, war eine meiner liebsten. Sie handelt von einer kleinen Prinzessin und einer Lilie.“
Sie sah den Jungen erwartungsvoll an, doch der Graf verzog keine Miene. Annabelle ließ sich davon nicht entmutigen und begann ihre Geschichte zu erzählen:
„Ihre Eltern waren reich. Sie besaßen ein prächtiges Schloss und einen großen Garten. Die kleine Prinzessin ging oft in diesen Garten, um die Rosen zu bewundern.
„Die kleine Prinzessin“, fuhr Annabelle fort, „konnte sie stundenlang betrachten, ohne sich dabei zu langweilen. Ihr Interesse galt nur diesen herrlichen Gewächsen. Sie nannte den Rosenstrauch insgeheim Königin des Gartens und sie bat den Gärtner, sich besonders um diese Pflanzen zu kümmern, damit sie nie verdorren würden.
Doch zwischen den stolzen Rosen wuchs etwas anderes. Es war nur klein und schien verwelkt. Die Wurzeln der Rosen entzogen der kleinen Pflanze das Wasser und die Sonnenstrahlen drangen kaum zu ihr durch, da sich die Rosen bedrohlich über sie beugten und in ihrem Schatten einhüllten. Die kleine Prinzessin entdeckte das Gestrüpp und hielt es für Unkraut.
Der Gärtner kam und betrachtete die kleine Pflanze genau.
Die Prinzessin geriet in Wut und sah den Gärtner böse an. Sie fand das Unkraut abscheulich und hässlich. Es hatte nichts zwischen ihren edlen Rosen zu suchen.
Das Mädchen schrie laut auf, zog ihren zerkratzen Arm zurück und starrte voller Entsetzen die schönen Rosen an, die es gewagt hatten ihr weh zu tun.
„Schneidet sie ab! Schneidet sie alle ab!“ befahl sie dem Gärtner in ihrer unbändigen Wut. „Sie sollen nicht mehr schön sein!“
Sie eilte in den Garten, um das Unkraut herauszureißen. Doch als sie zu dem Rosenstrauch kam, stellte sie etwas fest. Etwas, dass sie zutiefst überraschte. Das Unkraut war gewachsen. Eine kleine Knospe hatte sich zwischen dem dichten, grünen Gestrüpp gebildet.
„Gärtner, Gärtner! Erkläre er mir, was hier vor sich geht. Warum erblüht das Unkraut?“
„Gärtner, Gärtner! Ich glaube die Blume hat nicht genügend Platz zwischen all den Rosen!“ rief sie eines Tages, denn das Pflänzchen hatte an Größe gewonnen.
Das Mädchen suchte den schönsten Platz im Garten aus, um dort ihre Lilie einzupflanzen und schon bald erstrahlte diese in all ihrer Pracht und wurde zur schönsten und stolzesten Blume im ganzen Garten. Und all dies nur, weil man sich um sie gekümmert und ihr Liebe gegeben hatte. Da konnten ihr selbst die Rosen nichts mehr anhaben.“
Annabelle hielt inne. Der Graf sah sie wieder an. Auch wenn seine Augen nicht mehr leblos wirkten, so konnte sie noch immer die Traurigkeit in ihnen zu erkennen.
„Ich glaube, dass du wie diese Lilie sein könntest“, flüsterte ihm das Mädchen zu.
Sekunden vollkommener Stille vergingen, während Annabelles Blick unbeirrt auf dem traurigen Jungen haftete.
„Da sieht es gut aus“, gab Annabelle zu.
„Ich muss jetzt gehen. Ich lass dir die Zeichnung da!“ sagte sie schließlich und richtete sich auf.
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ISBN 3-935469-13-6 |
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Drei Geschichten für Kinder über die liebenswerten Stubentiger |
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