Erika Kroell

 

Fürchte deinen Nächsten ...

 

Erstes Kapitel ...

Der bärtige Mann auf dem Bildschirm hatte Tränen in den Augen. Seine kräftige Stimme zitterte und brach mitunter, als er jetzt sprach.
"Meine Frau und ich, wir bitten den Entführer nur um eins: Geben Sie uns unser Kind zurück."Er schluckte. "Lassen Sie Miriam einfach irgendwo frei. Niemand wird wissen, dass Sie das Kind entführt haben." Eine Träne löste sich aus seinem rechten Auge und tropfte auf den Tisch, auf dem die Mikrophone standen. Die verhärmt aussehende junge Frau, die neben ihm saß und ihren Tränen freien Lauf ließ, griff nach seiner Hand.
Der Mann atmete durch. Seine Lippen zitterten. "Und bitte, tun Sie ihr nicht weh." Dann konnte er sich nicht länger beherrschen und brach vor laufenden Kameras in Tränen aus. Seine Frau schluchzte laut, und die beiden umarmten sich weinend, während die Kameras gnadenlos draufhielten und das Elend dieser Eltern in die Wohnzimmer der Welt transportierten.

Die Frau auf der Couch ließ das Buch, in dem sie gelesen hatte, bis die tränenerstickte Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, auf den Schoß sinken und konzentrierte sich auf die Bilder. Die Kameras zogen sich jetzt etwas zurück und gaben den Blick frei auf einen langen Podiumstisch, an dem rechts und links von den weinenden Eltern von Miriam Bürger Polizeibeamte in Uniform und Männer in Zivil saßen. Eine weibliche Stimme aus dem Off erläuterte den Sachverhalt.
"Die fünfjährige Miriam Bürger aus Waldheide bei Bonn wurde am vergangenen Montag auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause wahrscheinlich entführt. Das kleine Mädchen hatte wie jeden Tag allein den nur 500 Meter langen Heimweg angetreten, kam jedoch nicht zu Hause an. Trotz intensiver Befragung der Nachbarschaft konnte die Polizei bislang keine Zeugen für eine Entführung oder ein Verbrechen finden. Kriminaloberrat Lotz von der Kripo Bonn kann vier Tage nach dem Verschwinden des Kindes keine heiße Spur aufweisen."
Die Kamera zoomte auf einen dunkelhaarigen Mann von etwa 50 Jahren, der neben Dennis Bürger saß und sich eben ein Mikrophon heranzog.

"Wir haben bisher lediglich Zeugenaussagen, die bestätigen, dass das Kind am Montag gegen 11.55 Uhr den Heimweg angetreten hat. Da es sich um eine relativ belebte Straße durch den Ort handelt, gehen wir davon aus, dass irgend jemand das Kind zu diesem oder einem späteren Zeitpunkt eventuell in Begleitung eines Erwachsenen gesehen haben muss. Wir appellieren deshalb nochmals nachdrücklich an die Bürger von Waldheide und an durchreisende Autofahrer, die am Montag gegen Mittag durch den Ort gefahren sind: Wenn Sie verdächtige Beobachtungen gemacht haben, oder auch Beobachtungen, die Sie selbst vielleicht nicht für wichtig halten, melden Sie sich bitte bei der Kripo Bonn oder bei jeder anderen Polizeidienststelle."
Der Kripomann redete noch weiter, wurde aber von der Journalistin aus dem Off übertönt.
"Die Kripo und die Eltern von Miriam befürchten, dass das Kind von einem Triebtäter entführt wurde. Die Chancen, das kleine Mädchen lebend wiederzufinden, scheinen nach vier Tagen gering."
Der Bericht war zu Ende, und die Nachrichtensprecherin fuhr mit anderen Tagesmeldungen fort.
Die Frau auf der Couch zündete sich eine Zigarette an und blies Rauchwölkchen ins Wohnzimmer. Vier Tage, dachte sie. Keine Chance, die kleine Miriam lebend wiederzufinden. Irgendein Schwein, das mit seinem Schwanz nicht weiß wohin, hatte sich die Kleine gegriffen und benutzt und anschließend weggeworfen. Getötet wahrscheinlich. Zumindest schwer verletzt. Vier Tage. Und es war kalt draußen. Selbst wenn das Kind noch gelebt hatte, war es mittlerweile wahrscheinlich tot.

Was müssen das für Menschen sein, dachte die Frau, aber sie gab sich die Antwort gleich selbst. Ganz normale Menschen, zumindest dem Anschein nach. Männer, die dir jeden Tag über den Weg laufen, mit denen du sprichst, vielleicht der Verkäufer aus dem Baumarkt, oder der Lehrer, oder der Arbeiter an der Baustelle vor dem Haus. Männer. Zu oft hatte sie in den letzten Monaten Triebtäter im Fernsehen und in den Zeitungen gesehen. Sie waren blond oder dunkelhaarig, dick oder schlank, hübsch oder langweilig, jung oder alt. Es gab keine Erkennungsmerkmale für ein gestörtes Sexualleben, keine Hinweise auf den unterdrückten Wunsch, Gewalt anzuwenden, einen Menschen zu knechten, zu quälen, zu missbrauchen. Sie sahen aus wie jeder Mann.
Die Frau drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Das Schlimmste war die Ohnmacht. Man konnte ein Kind nicht den ganzen Tag ununterbrochen beobachten. Spätestens mit dem Eintritt in den Kindergarten verliert man die Kinder ein wenig aus den Augen, und je älter sie werden, desto mehr. Kann man einem zehnjährigen Mädchen zumuten, sich nur unter der Aufsicht von Mutter oder Vater zu bewegen? Unmöglich. Man kann doch ein Kind nicht einsperren.
Aber darauf, dachte die Frau, läuft es hinaus. Die Kinder werden eingesperrt, und die Täter laufen frei herum. Wenn sie geschnappt werden, dann kriegen sie vielleicht ein Jahr oder auch zwei, werden aber schnell wegen guter Führung wieder entlassen. Gute Führung. Fast ein Witz. Wie soll sich denn ein Kinderschänder im Gefängnis nicht gut führen? So viele Kinder laufen da ja nun mal nicht herum, die man schänden könnte. Gute Führung!

Kaum draußen, oft schon während des Freigangs, schnappen sie sich das nächste Mädchen.
Irgendwas stimmt nicht in unserem Rechtssystem, dachte die Frau und zündete sich eine neue Zigarette an. Resozialisierung heißt das Zauberwort, aber wer, um Gottes Willen, will diese Kerle denn resozialisieren? Ich will sie nur bestrafen, wegschließen, töten. So einer hat sein Recht auf Leben verwirkt. Aber statt dessen wurden diese Schweine auch noch beschützt. Wie in dem letzten spektakulären Fall von Kindesmord, der erst vor ein oder zwei Wochen verhandelt wurde. Der Täter, ein hübsch aussehender junger Mann von höchsten 30 Jahren, hatte ein kleines Mädchen morgens auf dem Schulweg geschnappt, missbraucht, bewusstlos gewürgt und in einen Fluss geworfen, wo es ertrank. Und dann saß er vor Gericht, und um ihn herum wurde eine Wand aus schusssicherem Plexiglas aufgebaut, damit die Eltern keine Gelegenheit wahrnehmen konnten, ihr Recht auf Rache auszuüben. Ihr Menschenrecht auf Rache, dachte die Frau und presste die Lippen aufeinander.

Sie stand auf und trat ans Fenster. Ihr Blick fiel in den Garten, der noch ein wenig trostlos aussah zu dieser Jahreszeit. Bald würde sie wieder Blumen pflanzen und aussäen, Rosen schneiden, Ranken ziehen, ihr Leben mit den kleinen Alltäglichkeiten füllen, die dem Sinn einen Rahmen gaben.
Dem Sinn, zu leben und Freude zu schenken und selbst zu empfinden, Glück zu geben und zu nehmen. Wie lange noch?
Ein halbes Jahr, oder ein ganzes? Vielleicht auch etwas mehr. Der Arzt hatte sich nicht festlegen wollen auf einen so eng begrenzten Zeitraum, aber mehr als zwei Jahre, hatte er gesagt, sind nicht zu erwarten. Statistisch gesehen. Und erfahrungsgemäß.
Zwei Jahre. Sie würde nicht wieder Rosen schneiden und Blumen pflanzen, beschloss sie. Sie brauchte keinen Rahmen mehr, denn der Sinn darin war verbraucht. Wenn es diesen Sinn überhaupt gegeben hatte. Sie zweifelte daran, zweifelte an all den Dingen, die sie für wichtig gehalten hatte und die jetzt an Bedeutung verloren. Aber konnten sie denn wirklich Bedeutung besessen haben, wenn sie jetzt - den Tod in greifbarer Nähe - nicht mehr spürbar war?
Oder änderten äußere Umstände den Sinn eines Lebens, ihres Lebens?
Sie hatte Glück gehabt damals, als sie die Krankheit beim ersten Ausbrechen vor 13 Jahren zurückdrängen konnte. Mit Chemotherapie und den ganzen schrecklichen Folgen, die daran hängen: Haarausfall, Übelkeit, ständiges Erbrechen, totale Erschöpfung. Während der Behandlung war der Gedanke an den Sinn ihres Lebens unterdrückt gewesen. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich angesichts des puren Überlebenskampfes damit auseinander zu setzen. Damals ging es nicht ums Leben, sondern ums Überleben. Später, als die Krankheit überwunden schien, war ihr Leben einfach weitergegangen, der Sinn nicht überprüft worden. Der Ernstfall war nicht eingetreten.

Bis vor kurzem hatte es so ausgesehen, als hätte sie es endgültig geschafft. Aber es war wohl ein Rest an Zellen zurückgeblieben, die sich nur ausgeruht hatten, um jetzt wieder zuzuschlagen. Sie konnte sich die Stelle in ihrem Kopf, wo der Tumor wuchs, bildlich vorstellen. Rotes und graues Gewebe, Hirnstränge wie Gedärm, alles schön ordentlich, und darauf gepfropft ein gelblicher Klumpen mit unregelmäßiger Form, der seine Wurzeln durch die Gehirnschlingen ins Innere wand. Wenn die Kopfschmerzen einsetzten, beobachtete sie manchmal wie ein Außenstehender, der in den geöffneten Schädel hineinblickt, wie sich der Schmerz vom Tumor aus in Wellen durch die Gehirnwindungen tastete. Dieser Fremdkörper, der sich da in ihrem Kopf eingenistet hatte... Sie stellte sich vor, wie sie ihn mit den Händen greifen und einfach herausziehen würde. Wie eine Blume, deren Wurzeln sich mit denen einer anderen Pflanze verschlungen hatten. Ganz am Schluss würde es Plopp machen, und der Fall wäre erledigt.
Das blieb ein Traum. Tatsächlich war jetzt der Ernstfall eingetreten. Sie würde sterben. Unausweichlich. Unaufhaltsam. Binnen zwei Jahren.
Wie sollte sie diesen kläglichen Rest ihres Lebens gestalten? Einfach weitermachen wie bisher? Blümchen pflanzen, kochen, putzen, hin und wieder ein Gedicht schreiben, abends fernsehen, gelegentlich vögeln und schlafen, und das war's?
Oder eine Reise antreten, Kairo besuchen und die Pyramiden? Wofür? Oder das Leben vorzeitig selbst beenden? Bevor die Schmerzen anfingen, die auch mit den stärksten Medikamenten nicht mehr einzudämmen sein würden? Bevor sie vielleicht durch den Druck des Tumors verblödete? Den eigenen Namen nicht mehr wüsste oder den Heimweg nicht mehr fände?
Nach knapp der Hälfte dessen, was man an Jahren erwartet hatte, dem Leben abzuschwören, war nicht einfach. Den Rest dann sinnvoll auszufüllen, schien unmöglich. Was ist schon sinnvoll angesichts des eigenen Todes? Für die Familie zu sorgen, damit sie auch ohne einen zurecht kommen. Gut. Das ist schnell getan. Und dann? Nur mit der Erinnerung an das Sinnvolle in der Vergangenheit aufhören? Keinen neuen, großen Sinn mehr finden? Den ultimativen Sinn für ein Leben, das jetzt bald zu Ende sein wird?

Sie setzte sich wieder auf die Couch. Im Fernsehen plätscherten Leiden und Lust einer Seifenoper dahin. Früher einmal hatte sie sich, wie wohl jeder junge Mensch, gewünscht, in die Geschichte einzugehen, Zeichen zu setzen, unsterblich zu werden, wodurch auch immer. Vielleicht durch ihre Gedichte oder durch ein Buch, das sie bisher noch nicht geschrieben hatte. Diese Illusionen hatte sie längst abgelegt. In Berühmtheit war kein Sinn, schon noch in Reichtum, aber dafür war es jetzt wohl zu spät.
Immerhin würde sie nicht den Hungertod sterben, das zumindest war gewiss.
Sie dachte an Miriam Bürger, 5 Jahre jung und wahrscheinlich jetzt schon tot, und auch nicht den Hungertod gestorben. Hatte dieses kurze Leben einen ultimativen Sinn gehabt? Oder die Eltern. Hatte ihr Leben noch einen Sinn, jetzt, wo ihre kleine Tochter tot war? Konnten sie jemals einen neuen Sinn in ihrem Leben finden? In einem Leben, das noch soviel länger dauern würde als nur zwei Jahre. Und der Täter? Welchen Sinn hat wohl ein solches Leben, das nur dazu geführt wird, anderen Menschen weh zu tun, anderes Leben zu vernichten?
Solches Leben zu vernichten, das könnte wahrhaft der Sinn eines Lebens sein. Ultimativ. Nahezu göttlich. Sie stellte sich vor, wieviel weniger Unglück entstanden wäre, hätte man das Leben des unbekannten Entführers von Miriam Bürger vorzeitig beendet. Oder das Leben des anderen Triebtäters, der statt dessen hinter Plexiglas in Sicherheit gebracht wurde.
Die Kinder würden leben, die Eltern wären immer noch glücklich, die Freundinnen von Miriam würden nicht weinen und müssten sich nicht fürchten, wenn sie in Zukunft vor die Tür treten. Und die Eltern dieser Kinder wären um eine große Sorge ärmer. Gegen all dies Positive stand ein Leben, ein nicht erhaltenswertes Leben.
Vage spürte sie, dass dieser Gedanke mehr war als ein bloßes Konstrukt ihrer Depression. Instinktiv ließ sie ihn einsinken in tiefere Schichten ihres Bewußtseins. Wenn die Zeit da war, würde sie ihn wiederfinden.
Sie sah auf die Uhr. In fünf Minuten würde es wieder Nachrichten geben. Sie stand auf und holte eine Videokassette aus dem Regal unter dem Fernseher. Sie schob sie in den Recorder und setzte sich, die Fernbedienung in der Hand, wieder auf die Couch. Und als Dennis Bürger, Vater von Miriam, 5, wahrscheinlich schon tot und leider nicht verhungert, zum zweiten Mal seinen sinnlosen Appell an den Entführer seiner Tochter richtete, drückte sie auf die Record-Taste.

Copyright by Erika Kroell, Stand: 03. April 2001

 

Roman
ISBN: 3-89801-107-0
Rhein-Mosel-Verlag, Briedel
Broschiert, 16,80 DM

 

 

erika.kroell@t-online.de

 

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