Das 100-Meilen-Haus

Abenteuerroman für Kinder aus dem Kanada der 40er Jahre

Kanada 1943.

Die Zeiten sind hart. Nach dem Tod ihres Mannes hat Sophie Baxter eine gute Stelle im Haus einer pensionierten Lehrerin gefunden. Als diese stirbt, kommen die Erben und verfügen über das Haus. Für Sophie und ihren Sohn Matthew ist kein Platz mehr. Sie müssen gehen.

 

1. Kapitel

    Der Herbstwind fegt über den kleinen Friedhof und reisst den Bäumen das letzte dürre Laub von den Ästen. Matthew spürt, wie die Hand seiner Mutter sich fester um die seine schließt. Etwas Tröstliches geht von ihrer Hand aus, und Trost hat er in dieser Stunde bitter nötig.
    Der Trauerzug ist lang, denn jeder in Foxdale hat Miss Russell, die alte Lehrerin, gemocht. Für Matthew ist sie immer wie eine Großmutter gewesen. Er kann immer noch nicht fassen, daß sie so plötzlich gestorben ist. Dabei ist sie gar nicht krank gewesen. Nur alt, sehr alt.
    Matthew schnieft ein wenig, denn die Tränen kommen wieder. Mit neun Jahren weint man nicht mehr, als Junge schon gar nicht, hätte Miss Russell jetzt gesagt. Doch der alte Tom war anderer Meinung gewesen. Der hatte immer gesagt, daß alle Menschen weinen durften, wenn ihnen danach zumute war, sogar Cowboys und Indianer.
    Matthew muss ein klein wenig lächeln, als er sich das vorstellt. Doch dann wird sein Gesicht wieder traurig. Die liebe alte Miss Russell! Sie war tot, und nichts würde sie wieder lebendig machen.
    "Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub ..."
    Monoton hallt die Stimme des Pfarrers über den Friedhof. Die Trauergäste treten ans Grab, werfen ihre drei Schäufelchen Erde auf den schlichten Holzsarg und treten wieder zurück.
    Matthews Hand zittert ein wenig, als er seine drei Schäufelchen Erde wirft. Er muss sich arg zusammennehmen, um nicht laut loszuheulen. Dort unten liegt sie nun, seine 'Granny', die ihm Geschichten vorgelesen und die besten Schokoladenplätzchen in ganz British Columbia gebacken hat!
    "Was werden Sie jetzt tun, Mrs. Baxter?", hört Matthew einen der Trauergäste seine Mutter fragen. Es ist der dicke Mr. Hopkins, der Besitzer des General Store. "Jetzt, wo Miss Russel tot ist, werden Sie sich wohl eine andere Bleibe suchen müssen."
    Matthew erschrickt bis ins Herz hinein. An so etwas hat er überhaupt nicht gedacht! Seit dem Tod seines Vaters, der vor sechs Jahren bei einem Unglück in einer Goldmine ums Leben gekommen ist, haben seine Mutter und er in Miss Russels Haus gewohnt. Und nun sollten sie ausziehen?
    Matthew horcht gespannt auf das, was seine Mutter antwortet.
    "Ich weiß es noch nicht, Mr. Hopkins", erwidert sie. "Es kommt ganz darauf an, welche Pläne die Erben mit dem Haus haben. Vielleicht wollen sie, dass ich weiterhin den Haushalt führe, und Matthew und ich können darin wohnen bleiben."
    Matthew atmet auf. Das war gut, wenn sie bleiben konnten. Aber so schön wie früher würde es bestimmt nie mehr werden. Sie hatten es gut gehabt bei Miss Russell. Zwar hat seine Mutter nicht viel Geld bei ihr verdient, wie sie immer gesagt hat, doch das ist auch nicht so wichtig gewesen. Dafür hatte es immer Fleisch und Eier gegeben, und jeden Sonntag hatte Miss Russel einen Kuchen gebacken.
    Matthew wirft einen scheuen Blick hinüber zu dem Mann und der Frau, die jetzt zusammen mit den anderen Trauergästen zum Friedhofsausgang gehen. Es sind Miss Russels Erben, die nun bestimmen werden, was mit dem Haus geschehen soll. Matthew mag sie nicht. Sie wirken beide kalt und hochmütig, die Frau noch mehr als der Mann. Er kann gar nicht glauben, daß sie mit der lieben, herzensguten Miss Russel verwandt sein sollen.
    Matthew hält noch immer die Hand seiner Mutter. Sie sagt nichts, doch er spürt, dass sie ebenso traurig ist wie er. Bestimmt macht auch sie sich große Sorgen, wie es nach Miss Russels Tod weitergehen soll. Werden sie von Foxdale weggehen müssen?
    Matthew spürt eine dumpfe Furcht in seinem Herzen aufsteigen. Nein, so weit darf es nicht nicht kommen! Er kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Hier, in dem kleinen Ort am Fuß der Berge, war er geboren, ging er zur Schule, hat er die ganzen neun Jahre seines Lebens verbracht. Und er hat seine Freunde hier, wenn auch nicht viele.
    Er schaut hinüber zu Elsie, die auf der anderen Seite des Grabes steht. Elsie ist seine beste Freundin und schon dreizehn, doch sie ist nicht viel größer als er. Ganz still steht sie da, den Kopf so tief auf die Brust gesenkt, dass er ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern nicht sehen kann. Aber am Zucken ihrer Schultern merkt er, dass sie weint. Auch sie hat die alte Miss Russell gern gehabt.
    Matthew will zu Elsie hinüberzugehen und seine Arme um sie zu legen, möchte ihr etwas Tröstendes sagen. Doch seine Mutter zieht ihn vom Grab weg. Die Beerdigung ist zu Ende.

 

Die vorläufigen Kapitel

Miss Russels Begräbnis
Aus der Heimat vertrieben
Im Haus von Tante und Onkel
Auf der Flucht
Auf der Suche nach der Mutter
Matthew gibt nicht auf
Das 1OO-Meilen-Haus
Der feindliche Indianer
Der Winter kommt über Nacht
Sie werden Freunde
Durch Schnee und Eis
Matthew findet seine Mutter

 

 

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