An einem versteckten Ort, den kein Mensch der Welt je gesehen hat, findet einmal im Jahr ein geheimnisvolles Treffen statt. Alle Winde der Welt begegnen sich dort und berichten einander, was sie während ihrer langen Reisen durch nahe und ferne Länder erlebt und gesehen haben.
Der brausende Orkan und der ungebändigte Taifun kommen wie gute Freunde daher und erzählen von ihren wilden Tänzen.
Der Passat redet mit der sanften Brise von seinen Reisen über die Meere.
Der erschöpfende Föhn trifft den peitschenden Tornado, Monsunwind und Hurrikan wehen und stürmen einträchtig zusammen und der Sandsturm schleudert hitzig seine messerscharfen Körner umher.
Die Luft schwirrt und tost von den Stimmen der verschiedenartigen Winde und die Wolken stieben verwirrt und unentschlossen in alle Himmelsrichtungen.
Als der Tag des Treffens wieder einmal gekommen war, wirkten alle Winde bekümmert und traurig, als sie einander begrüßten. Sogar der Orkan, der sein Kommen sonst stets mit grollendem Getöse ankündigte, murmelte nur leise vor sich hin.
"Was ist mit euch?" flüsterte die Brise, die von Natur aus ein leiser Wind mit sanfter Stimme war. Die anderen antworteten nicht, ließen sich in einem großen Kreis nebeneinander nieder und wehten stumm vor sich hin.
"Warum seid ihr still ? Das ist nicht das Fest der Winde, dass ich seit Jahrtausenden mit euch feiere!" klagte die Brise.
"Still!" grollte der Hurrikan und der Taifun zischte leise.
Plötzlich erhob sich der Nordwind.
Der eisige Geselle redete laut mit schneidend scharfer Stimme:
"Liebe Freunde. Schön, dass ihr wieder die weite Reise hierher gemacht und eure Reviere verlassen habt. Schade ist jedoch, dass der Anlaß unserer Begegnung heute nicht erfreulich ist, denn der Zustand der Welt bereitet uns großen Kummer."
Ein Brausen erfüllte die Luft, als die Winde dem Redner zustimmten. Einer nach dem anderen begann nun zu berichten, was er erlebt hatte und was ihn beunruhigte.
"Die Menschen führen wieder grausame Kriege in meinem Gebiet", erzählte der Ostwind und begann zu enthemmt schluchzen.
"Über die toten Leiber von Kindern wehte ich und ich habe viel Elend und Verderben gesehen. Die Menschen hungern, sie weinen und klagen - aber sie beenden ihre entsetzlichen Schlachten nicht!"
Lautes Gemurmel erhob sich und der heiße Wüstenwind rief laut: "Ja, sie hungern auch in meinem Gebiet, tausende sind schon gestorben. Dabei habe ich auf meinem Weg viele Länder durchstreift, in denen die Felder fruchtbar sind und das Vieh gut genährt ist - dennoch verstehen die Menschen nicht zu teilen und dafür zu sorgen, dass niemand von ihnen Hunger leidet. An jedem Tag verhungern Zehntausende auf der Erde, obwohl für alle genug zu essen da wäre," erzählte der Wüstenwind betrübt.
Der Monsun berichtete ernst von den Nöten der Menschen aus dem Lande Indien:
"Über 950 Millionen Menschen leben dort, und es kommen an jedem Tag fast 33.000 hinzu."
In China hätten die Menschen sogar mit einem Gesetz geregelt, wie viele Geburten es geben dürfe, berichtete der Ostwind: "Mehr als eine Milliarde Menschen leben dort und weil es fast unmöglich ist, sie alle mit Nahrung zu versorgen, dürfen Familien nur noch ein Kind haben."
Der Hurrikan grollte: "Die Menschen vermehren sich in rasendem Tempo überall auf der Welt. Und sie fühlen sich immer klüger, weil sie ihre technischen Geräte anbeten. Aber sie tun etwas, das kein Tier der Welt täte: Sie zerstören ihren eigenen Lebensraum. Sie verseuchen die Meere, werfen riesige Mengen üblen Abfall hinein. Sie verpesten die Luft, indem sie täglich unvorstellbar große, Wolken giftiger Stoffe in die Atmosphäre schicken. Täglich holzen sie ihre Wälder weiter ab - an jedem Tag ein Stück, dass so groß ist wie ein ganzes Land. Und sie produzieren immerzu Dinge, die sie schon nach kurzer Zeit wieder wegwerfen und dann zu riesigen Müllbergen in der Natur auftürmen."
Der Taifun seufzte laut und traurig, dann er erzählte von furchtbaren Vulkanausbrüchen in Asien, der Sandsturm wußte von Stammeskriegen in den unendlichen Weiten der Wüste und der Sommerwind klagte, dass er die Menschen nicht mehr sprechen höre:
"Sie sitzen an komplizierten Maschinen, die sie Computer nennen und reden darüber schriftlich miteinander. Sie hocken in ihren Häusern und starren stundenlang in ihre Fernseher, anstatt ein eigenes Leben zu führen und eigene Gedanken zu denken. Statt sich zu treffen und einander beim Reden in die Augen zu sehen, sprechen sie in Apparate. Wie schön war es früher, als sie unter den Bäumen in ihren Dörfern saßen und gemeinsam lachten und miteinander sprachen, bis der Nachtwind mich ablöste," bedauerte der Sommerwind.
"Genug geklagt!" rief der Nordwind. "Wir müssen etwas unternehmen, denn wenn sie den Planeten zerstören, werden auch die Winde sterben! Es soll unsere Aufgabe sein, den Menschen wieder auf den richtigen Weg zu helfen!"
Nun stürmten und wehten, brausten und tosten die Winde der Welt wild durcheinander.
"Aber was können wir tun?" säuselte die Brise mit ihrer sanften Stimme.
"Wir werden zu ihnen sprechen," bestimmte der Nordwind.
"Wir werden in ihre Ohren und in ihre Herzen flüstern. Wir werden vor ihren Häusern wehen und durch ihre Mauerritzen dringen und wenn sie sich in der Natur bewegen, werden wir fortwährend zu ihnen reden. Und einige von ihnen werden uns verstehen und unsere Botschaft an alle anderen weiterleiten."
"Aber wie lautet denn die Botschaft?" fragte der Wirbelsturm und peitschte einmal wild zwischen die Wolken am Himmel, die sich erschreckt verzogen.
Der Nordwind rief nun die Winde der Jahreszeiten zu sich und sagte: "Ihr werdet die Menschen wieder das Staunen lehren! Frühlingswind, du wirst ihnen den Duft der erwachenden Natur bringen, du wirst die bunten Blumen mit sanfter Kraft schaukeln und die Vögel auf deinen Schwingen tanzen lassen.
Du wirst die zarten Blüten der Bäume wie Schneeflocken umher wirbeln, die Wolken vertreiben und der Sonne den Weg freimachen, damit die Menschen die Pracht des Frühlings wieder mit Freuden genießen und ihre Sinne sich durch dein Dasein schärfen."
Der Frühlingswind freute sich sehr über diese Aufgabe und machte sich sogleich auf den Weg um zu tun, was ihm gesagt wurde.
"Sommerwind!" rief der König der Winde.
"Du wirst ihre Körper streicheln und ihnen Linderung verschaffen, wenn die Hitze in deiner Jahreszeit zu groß für sie wird. Auch du wirst den Himmel lange freihalten von Wolken und Dunkelheit, damit sie aus ihren Häusern herauskommen und ins Freie gehen und einander begegnen. Sorge dafür, dass ihre Kinder zusammen draussen spielen, laß sie gemeinsam lachen und toben und trockne ihnen nach dem Schwimmen ihre nasse Haut. Du wirst ihnen den Duft der Früchte und der Blumen bringen und Du sollst ihnen am Abend nach einem heißen Tag beruhigende Kühle schenken."
Auch der Sommerwind wehte sogleich in Richtung Norden, wo er mit seiner Arbeit beginnen sollte.
"Herbstwind, Du wirst sie wieder das Spielen lehren: Laß ihre bunten Drachen tanzen, wirble das prächtige Laub der Bäume durch die Luft, vertreibe die Morgennebel und lasse den Tau in den Netze der Spinnen wie Diamanten im Sonnenlicht erzittern. Zeig ihnen die Schönheit deines Bruders, des Herbstes, den Geruch der Wälder, zeige ihnen deine Sanftmut und auch deine Stärke. Zerzause ihnen das Haar, rüttele an ihren Türen und Fensterläden, wenn sie dich nicht erkennen!"
"Sofort!" brüllte der Herbstwind übermütig, schlug einen Salto und war verschwunden.
"Ich selbst," sprach der Nordwind, "Ich werde sie im Winter bei Eis und Schnee zurück in ihre Häuser schicken, damit sie eng zusammenrücken und gemeinsam ihre Geborgenheit genießen. Manchmal, wenn sie unachtsam ein Fenster öffnen, werde ich ihre Kerzen auspusten, um meine Kraft zu zeigen. Ich werde ihnen klare, eisige Luft bringen und die Wolken will ich aus dem Norden mit Schnee herbei schicken. Die Menschen sollen dann hinausgehen und mit ihren Mündern die dicken Flocken einfangen, sie sollen den Schnee schmecken, mit ihm spielen, ihn genießen und sich wundern darüber, wie schnell er ihre Welt in eine weiße, stille, wunderschöne Winterlandschaft verwandelt. Wir Winde wollen ihnen die Herzen öffnen für alles, was schon immer schön war auf der Welt - sie haben leider nur vergessen, alles Schöne zu sehen. Wenn sie die Natur wieder entdecken, entdecken sie vielleicht auch sich selbst wieder: Menschen, die einander lieben und achten, die einander helfen und sich unterstützen, die gemeinsam lachen und weinen, die miteinander leben und nicht gegeneinander. In genau einem Jahr werden wir uns wieder hier treffen und schauen, ob wir den Menschen helfen konnten," schloß der Nordwind seine Rede.
Stürmen, Tosen, Brausen, Rauschen und Pfeifen erfüllte für einen Moment die Lüfte, dann wurde es an dem geheimen Ort wieder so still wie zuvor.
Und die Winde kehrten in ihre Reviere zurück und begannen sogleich, sich um die Menschen zu kümmern.
Geh Du nun hinaus und lausche dem Wind!
Welcher ist grad vor Deiner Tür und spricht zu Dir?
Kannst Du verstehen, was er sagt?
Hör ihm ganz genau zu, denn er will Dir etwas sehr wichtiges sagen.
copyright by Peggy Wehmeier
Geest-Verlag
DM 16,80
ISBN 3-934852-51-3
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