Als Manuel aufwacht, ist die Nacht vor dem Fenster noch finster. Es ist ganz still im Zimmer. Es war kein Lärm, der ihn geweckt hat. Die Stille ist der Herzschlag der Nacht. Aber da ist etwas, das den Rhythmus dieses Herzschlags durcheinander gebracht hat. Das fühlt Manuel, als er mit offenen Augen in seinem Bett liegt und in die Dunkelheit horcht.
Manuel schlüpft unter der Decke hervor. Der Holzboden unter seinen bloßen Füßen ist kalt. Manuel geht durchs Zimmer und sieht nur die Umrisse der Möbel. Sein Zimmer ist sehr klein wie alle Räume der Wohnung und es ist vollgeräumt mit Manuels Sachen. Trotzdem stößt er nirgendwo an, er würde sich hier blind zurechtfinden. Die Tür zu Jakobs Zimmer ist nur angelehnt. Jakob ist Manuels kleiner Bruder, er ist erst acht. Er will nicht, dass Manuel die Verbindungstür zwischen ihren Zimmern schließt. Manuel kennt den Grund dafür. Jakob hat oft Angst, vor dem Einschlafen und während der Nacht. Auch jetzt liegt Jakob wach und fürchtet sich. Obwohl Jakob nicht schreit oder weint, das tut er nie. Aber Manuel kann seine Angst spüren.
Er steht an Jakobs Bett, der Bruder rückt zur Seite und hebt die Decke. Manuel legt sich neben ihn. Jakob ist verschwitzt, als hätte er Fieber. Für einen Moment hält er den Atem an. Als Manuel den Arm um ihn legt, stößt Jakob hörbar die Luft aus. Manuel streicht ihm die nassen Haare aus der Stirn, jetzt atmet der kleine Bruder wieder ruhiger. Jakob fühlt sich weich an, als er sich an Manuels knochige Brust drückt. Er bläst ihm seinen warmen Atem auf den Hals.
„Die Geschichte?“, fragt Manuel flüsternd.
„Ja! Bitte!“
„Also die Geschichte ...“
„Von Anfang an!“
„Gut ...“
Die Geschichte, die sich Manuel für Jakob ausgedacht hat, um ihn in diesen Nächten zu beruhigen, um ihn seine Alpträume vergessen zu lassen. Die Geschichte von einem Jungen, der im zerklüfteten Gestein eines Canyons das seltsamste Wesen findet, das je auf der Erde gelebt hat.
Die Geschichte, wie schon so oft in einer Nacht, deren Herzschlag durcheinander gekommen ist.
Die Geschichte, von Anfang an.
Einmal stand ein Junge am Rand eines tiefen Canyons. Er ließ den Blick über das Indianerland vor ihm schweifen und machte sich Sorgen um seinen Vater. Der Vater war mit dem Geländewagen in die nächste Stadt gefahren, um Vorräte einzukaufen und die Post der letzten beiden Wochen zu holen. In der Morgendämmerung war er losgefahren und hätte eigentlich schon längst wieder zurück sein sollen. Die untergehende Sonne legte ein tiefrotes Leuchten auf die Felsen und Klippen des Canyons; als käme es aus dem Inneren des Steins, so wirkte dieses Leuchten auf den Jungen, der am Rande des Abgrundes stand und die Augen zusammenkniff und sich bang fragte, ob seinem Vater nicht etwas zugestoßen sei.
„Wie alt ist er denn?“, unterbricht Jakob seinen Bruder.
„Der Junge?“
Manuel spürt, dass Jakob nickt. Jakob stellt immer dieselbe Frage und Manuel gibt ihm immer dieselbe Antwort; das ist Teil eines Rituals zwischen ihnen: ihres Geschichtenrituals.
„Er ist vierzehn“, sagt Manuel.
„So wie du ... Und wie heißt er?“
„Was glaubst du?“
„Hm ... Robert vielleicht.“
„Gut, dann heißt er also Robert.“
„Und die Indianer haben ihm auch einen Namen gegeben. Einen Indianernamen. Sternenjunge nennen sie ihn. Weil er ein Fernrohr hat, durch das er den Himmel betrachtet. Fast jede Nacht macht er das. Den Mond und die Sterne betrachtet er. Und die Indianer hat er auch schon durchschauen lassen. Die haben zuerst gar nicht glauben können, wie nah durch das Fernrohr alles wirkt. Und drum haben sie ihm diesen Namen gegeben. Sternenjunge.“
„Das hätte ich schon noch gesagt.“
„Ich hab geglaubt, du hast es vergessen ...“
Auch das sagt Jakob jedes Mal. Manuel weiß, dass Jakob die Geschichte immer bis aufs letzte Wort gleich erzählt haben möchte. Er mag keine Abweichungen von der Version, die er kennt. Schon früher, als Manuel seinem Bruder vor dem Einschlafen immer vorgelesen hat, war das so. So oft wollte Jakob ein und dieselbe Geschichte hören, bis er sie auswendig kannte. Manuel denkt, dass diese immer gleiche Geschichte, die immer gleichen Worte Jakob Sicherheit geben. Eine Art von Sicherheit, die er ganz einfach dringend nötig hat.
„Mach weiter!“, drängt ihn Jakob nun.
„Jaja, ich mach schon ... Als er so am Rande der Klippe stand, hörte Robert plötzlich leise Schritte hinter sich.“
„Es war Ben, der alte Navajo-Indianer“, unterbricht ihn Jakob abermals. „Der Freund von Roberts Vater. Im Lager der Archäologen stand ihr Zelt nur ein kleines Stück neben seiner Hütte.“
Ben hatte im Gefühl, dass sich Robert Sorgen machte. Er war gekommen, damit er nicht allein war. Mit ruhigen Worten versuchte er den Jungen zu beruhigen. Der Vater würde bald kommen, bekräftigte er mehrmals und legte Robert eine Hand auf die Schulter. Er solle mit ihm ins Lager zurückgehen, das Abendessen sei fertig.
Einstweilen war die Sonne hinter den Felstürmen am gegenüberliegenden Rand des Canyons versunken. Sie hatte ihr warmes Leuchten mit sich gezogen. Stattdessen hing eine schmale Mondsichel über dem Jungen und dem alten Indianer im abendlichen Himmel. Das Licht, das sie gab, war sehr hell und sehr klar. In einer uralten geheimen Indianersprache wispernd sank es auf sie herab und legte sich silbern und kühl über das, was von der Wärme des Tages auf den Felsen noch übrig war.
Da riss sich Robert von Ben, dem Indianer, los. Er rannte fort, rannte nicht zum Lager, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er lief einen Weg entlang, es war ein Weg, den er gut kannte. Der Weg war sehr schmal und voll loser Steine und er führte zum Boden der Schlucht.
Immer wieder kam Robert ins Rutschen, einmal wäre er um ein Haar hingefallen. Doch er kriegte eine Wurzel zu fassen, die zwischen den Felsen hervorwuchs. Er rappelte sich wieder auf und blieb nicht einmal stehen, um Atem zu holen. Er rannte weiter, als wäre der Teufel hinter ihm her. Doch plötzlich, auf halber Strecke zum Talboden, dort wo nur noch eine flirrende Ahnung des Mondlichts hingelangte, hielt er an.
„Und dort hat er ihn gesehen“, flüstert Jakob. „Im Fels. Im Gestein der Canyonwand hat er ihn bemerkt ...“
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