Klaus Schwingel
erzählt

 


Leugnen zwecklos!

- Aus Ulli Bauers saarländischer Kindheit -

von Klaus Schwingel


Diesmal trug Stefan die Schuld an der Abreibung, denn es war seine Idee, mit der alles angefangen hatte. Ulli machte Stefan keine Vorwürfe, denn die Idee, nach Munition zu suchen, hätte auch von ihm kommen können. Außerdem bekamen sie die Abreibung sowieso beide. Deshalb gab es keinen Streit. Auch die Väter waren sich einig.

Ulli kannte seinen Vater erst seit einigen Monaten. Davor war nur seine Mutter da und die Fremden, die mit Pferde- und Kuhfuhrwerken ins Dorf gekommen waren, eine Weile bei ihnen wohnten und dann wieder weiterzogen. Soldaten waren gekommen und gegangen, deren Sprache Ulli nicht verstanden hatte. Und ganz zum Schluss war irgendwann auch Ullis Vater da.

„Nun bleibe ich für immer bei euch", hatte er gesagt und so getan, als seien sie die dicksten Freunde.

Von diesem Zeitpunkt an war Ullis Vater für die Abreibungen zuständig. Ein schlechter Tausch, denn Vater hatte kräftigere Hände als Mutter und er machte alles sehr gründlich.

Ulli schätzte seine Situation durchaus realistisch ein. Einen abgebrannten Schuppen konnte man nicht einfach unter dem Kopfkissen verschwinden lassen. Manchmal musste man einfach zu dem Bock stehen, den man geschossen hatte und die Abreibung kassieren. Danach herrschte dann auch wieder Ruhe und man konnte wieder freier über alles sprechen.

Nach einer Abreibung konnte man gefahrlos zugeben, was man zuvor verschwiegen hatte. Es gab keinen Nachschlag.

Vor der Abreibung ging es gewöhnlich nicht um die grundsätzliche Frage ob es Senge gab, sondern wie viel. Je mehr Fehltritte man eingestand, desto ausgiebiger fiel die Abreibung aus. Es kam also auf das besondere Geschick an, vor der Abreibung herauszufinden, was Vater schon wusste. Denn mehr musste man nicht zugeben. Den ungeklärten Rest eines strittigen Sachverhaltes konnte man nach der Abreibung besprechen. Das geschah dann in geläuterter, entspannter Atmosphäre, in geradezu konstruktiven Vier-Augen-Gesprächen zwischen Vater und Sohn. Vater erklärte Ulli was schief gelaufen war, und Ulli versprach in Zukunft keinen Unsinn mehr zu machen. Diesen Gefallen tat er ihm gerne, denn Ulli hatte manchmal den Eindruck, dass es seinem Vater mehr um diese Gespräche, als um die Abreibung ging.

Diesmal standen mehrere Verstöße im Raum: Ulli und Stefan hatten gezielt nach Munition gesucht, was natürlich verboten war. Sie hatten von den Hülsen einer kompletten Patronenkette die Bleispitzen demontiert, was noch strenger verboten war. Ferner hatten sie das Zerlegen der Geschosse in Vaters Schuppen vorgenommen, an Vaters Werkbank und unter Zuhilfenahme von Vaters Werkzeugen. Mit anderen Worten, sie hatten das Sakrileg begangen, Heiligtümer zu entehren und, was strafverschärfend war, diese letzten Endes auch noch zu vernichten.

Das alles geschah ohne böse Absicht. Der entscheidende Fehler bestand womöglich nur darin, dass sie das auf der Werkbank angehäufte Schießpulver anzündeten, denn dies führte zu der unerwartet großen Stichflamme, was wiederum den totalen Verlust des Schuppens zur Folge hatte.

Der Versuch, diese Sache zu verschleiern oder zu leugnen, war zwecklos.

Als Vater am späten Nachmittag nach Hause kam, besah er sich die kläglichen Reste seines Schuppens, die wie verkohlte, riesige Zahnstocher in den Himmel ragten und fragte:

„Junge, was hast du wieder angestellt?"

Nun war der Augenblick wieder einmal gekommen, dachte Ulli, Augen zu und durch!

„Es war nur wegen der Pfeile", versuchte er zu erklären.

„Welche Pfeile?"

„Indianerpfeile", sagte Ulli kleinlaut, „wir brauchten Bleispitzen für unsere Pfeile. Dann kann man besser damit schießen."

„Hast du dich schon im Spiegel gesehen?", wollte Vater wissen.

Ulli nickte.

„Die Augenbrauen weg, die Wimpern verbrannt, auf dem Kopf auch keine Haare mehr..."

Ulli sah zerknirscht zu seinem Vater hoch und wartete auf die Abreibung.

„Dein Gesicht ist krebsrot. Tut es weh?", fragte Vater.

„Nein."

Weshalb macht er es nur so spannend, dachte Ulli. Je eher er anfängt, desto eher habe ich es hinter mir.

„Wo habt ihr die Munition gefunden?", wollte Vater wissen, „Kannst du mir die Stelle zeigen?"

„Klar."

„Gut", sagte Vater, „gehen wir."

Vater nahm Ulli bei der Hand und sie gingen gemeinsam durch die Wiesen, am Bach entlang, um die Stelle zu finden, an der noch Munition lag. Vater nahm sich viel Zeit, und sie sprachen miteinander wie sonst nach der Abreibung, von Mann zu Mann, gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe.

Ulli verstand die Welt nicht mehr. Er verstand vieles von dem, was ihm sein Vater über Munition erzählte, über Waffen und über den Krieg.

Aber wo, um alles in der Welt blieb die Abreibung?




27. Oktober 2000


copyright © 2000 by klaus Schwingel

 



Schneeperle

- Aus Ulli Bauers Leben -

von Klaus Schwingel


Bauer sieht auf die Bahnsteiguhr. Der ICE wird in wenigen Augenblicken einlaufen.

Bauer fasst sich mit der linken Hand in den Nacken. Junge, bin ich nervös, denkt er und lässt die Hand sinken. Er schaut erneut auf die Uhr. Er ist bereits seit einer halben Stunde hier. Bauer darf den Zug nicht verpassen. Sein Auto hat er kurzerhand im Halteverbot geparkt, um keine Zeit zu verlieren.

Bauer fragt sich, ob er Ilona erkennen wird. Vielleicht hatte sie ihm die Bilder einer anderen gemailt. In wenigen Minuten wird sie ihm gegenüber stehen. Ob er sie erkennen wird? Vielleicht ist sie älter, als sie in den Mails behauptet hatte. Merkwürdig, bei diesem Gedanken wird er etwas ruhiger.

Nein, sie war immer aufrichtig. Das fühlte er in ihren Mails. Hunderte hatten sie ausgetauscht. Sie hat mir ihr Foto geschickt, denkt er. Sie ist 36, mein Gott! Er selbst wird in einigen Wochen 55.

Der ICE läuft ein. Fenster fliegen vorüber, Gesichter. Der Zug wird langsamer. „Ich bin in Wagen neunzehn“, stand in ihrer letzten Mail. Bauer verfolgt die Wagonnummern. Einundzwanzig, Zwanzig. Der Zug hält. Bauer läuft Neunzehn entgegen. Der Bahnsteig ist voller Menschen. Am Anfang des Wagons bleibt er stehen, hält Ausschau. Aber er kann Ilona nicht finden. Sie trägt einen braunen Blazer, eine Brille, schwarze Haare. So hatte sie sich beschrieben. Der Bahnsteig wird leerer. War sie nicht im Zug? Oder zögert sie in letzter Sekunde? War sie im Zug und beobachtet ihn jetzt?

Unvermittelt steht sie vor ihm und sagt: „Hallo.“ Ilona steht vor ihm. Er erkennt sie. Sie ist es. Er fasst sich mit der linken Hand in den Nacken.

„Oh ... ja ... Hallo!“

Er verliert den Boden unter den Füßen.

„Egal, wie aufgeregt ich bin, ich werde dich küssen!“, hatte er Ilona gemailt und sie hatte geantwortet, „Oh, gleich zu Anfang? Hm. Ob wir das schaffen?“

Sie reichen sich die Hand. Sie sieht ihn an, lächelt zaghaft mit gerötetem Gesicht. Bauer beugt sich zu ihr, berührt sanft ihre Lippen. Sie erwidert den Kuss. Dann dreht sie den Kopf zur Seite.

*


„Hatten Sie eine äh...“ Verwirrt fragt er sich, ob seine Aufregung mit seinem Alter zu tun hat, früher hatte er solche Situationen besser im Griff.

Andererseits, noch nie in seinem Leben war er einer Geliebten begegnet, die er noch nicht kannte...

„... hattest Du eine gute Reise?“

„Danke,“ sagt Ilona, auch sie ist verlegen.

„Ich glaube, wir müssen in diese Richtung...“, Bauer nimmt ihre Reisetasche. Da sind die Kondome drin, denkt er. Sie hatte darauf bestanden: „Liebling, bitte lass‘ mich die Kondome besorgen. Keine Widerrede!“

„... das Wetter ist ja nicht besonders.“

„Nein,“ sagt Ilona, „während der ganzen Fahrt hat es geregnet.“

„Ja, wie meistens, bei diesem Wetter...“ Sie gehen durch die Halle. Bauer bestimmt die Richtung.

Draußen regnet es in Strömen.

„Ich habe leider keinen Schirm. Laufen wir...?“

Sie laufen. Bereits nach zehn Metern ringt Bauer nach Atem. Er beschließt sich nichts anmerken zu lassen. Im Auto versucht Bauer gelassen zu wirken. Aber sein Atem geht keuchend. Er wartet einige Sekunden, bevor er den Schlüssel in das Zündschloss steckt.

Ilona lächelt. Sie sitzt durchnässt neben ihm und lächelt. Sie sieht reizend aus.

Unter dem Scheibenwischer klebt der Gruß einer Politesse.

„Mist!“

Das fängt gut an, denkt Bauer.

„Das fängt ja gut an“, sagt Ilona.

Auf der Fahrt ins Hotel reden sie wenig. Irgendwann fragt er sie, ob sie ein Eis wolle. Sie bedankt sich.

„Klar“, sagt Bauer, „kein Eiswetter.“

Wir treffen uns nicht zum Eisessen, denkt er und fasst sich mit der Linken in den Nacken, auf was habe ich mich da eingelassen. Eine zauberhafte Frau. Wie aus dem Bilderbuch. Gepflegt, hübsch, attraktiv. Wie auf den Fotos. Charmant, ja sie strahlt Charme aus, obwohl sie unsicher wirkt oder gerade deshalb.

Und der Duft ihres Parfums. Ihren frischen Duft hatte er wahrgenommen, als er sich nach der Reisetasche gebückt hatte.

Ilona will zur Rezeption. Doch er drängt sie weiter.

„Ich habe bereits eingecheckt. Komm, du willst sicher trockene Sachen anziehen?“

„Ja.“

*


„Dort ist das Bad. Es ist wirklich ruhig, das Zimmer. Ich warte vielleicht unten...?“

„Oh nein, ich brauche nicht lange.“

„Gut,“ er steht hilflos da und überlegt, was er sagen soll.

„Dann gehen wir zusammen runter?“

„Was wollen wir unten?“

Es arbeitet fieberhaft in ihm. Seine Gedanken überschlagen sich. Aber kein einziges der Fragmente, die durch sein Gehirn schießen, lässt sich anhalten, zu einem Gedanken vollenden oder gar einem Wort. Er hört sich sagen:

„Ich dachte, wir trinken vielleicht einen Kaffee?“

„Oh, ja. Gute Idee. Wie Harry und Claire?“

Woher kannte sie Harry und Claire?

„Ich ziehe mich zuerst einmal um. Alles ist nass.“ Sie lacht.

Ilona trägt schwarze Hosen und eine hellbraune Jacke.

Um den Hals hat sie einen leichten, seidenen Schal, den sie nun mit der Jacke ablegt. Unter der Bluse zeichnen sich ihre Brüste ab.

„... wie Harry und Claire,“ stottert Bauer, „ja, ja, wie Harry und Claire.“

Sie nimmt ein paar Sachen aus der Tasche und geht ins Bad. In der Tür dreht sie sich nochmal um:

„Ich trinke niemals Kaffee. Ich nehme einen Tee“, sagt sie.

Harry und Claire“ war der Titel einer Persiflage, die Ilona verfasst und in das Literaturforum gestellt hatte, in dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie nannte sich „Schneeperle“. Der Name war ihm zunächst aufgefallen, weil er rätselhaft war, faszinierender Zauber von Poesie. Jedenfalls hatte es Bauer so empfunden.

Während der Diskussion über ihren Text „Harry und Claire“ war Schneeperle eine Bemerkung entschlüpft, die Bauer elektrisiert hatte. Claires diesbezügliche Angewohnheit, hatte Schneeperle formuliert. Sie bezog sich mit scheinbarer oder wahrhaftiger Naivität auf Claires Angewohnheit, keine Slips zu tragen und dies ihre Umgebung wissen zu lassen.

Im Text Harry und Claire hatte es Schneeperle verstanden knisternde erotische Spannung zu erzeugen. In der nachträglichen Diskussion aber hatte sie sich dann auf die distanzierende Umschreibung von Claires diesbezüglicher Angewohnheit zurückgezogen und den Eindruck von naiver Ahnungslosigkeit vermittelt. Zumindest schien sie nicht verstehen zu wollen, welche Lawine von Fantasien sie bei Bauer ausgelöst hatte.

Die virtuelle Schneeperle ist Ilona.

Natürlich kennt Ilona Harry und Claire. Sie hat sie geschrieben.

Bauer wechselt die nassen Hosen und sinkt auf das Bett.

Er hatte ihr Wesen zu ergründen versucht und sich in sie verliebt. Sie hatten sich ineinander verliebt. In zahllosen Mails hatten sie sich gegenseitig erkundet, ihre Gedanken und Seelen in Texten vereint. Und von diesem Wesen, dem Bauer seit einigen Monaten in Liebe verfallen war, dem er seine verborgensten Geheimnisse offenbart und das sich ihm anvertraut hatte, von diesem Wesen ist er nun nur durch diese Badezimmertür getrennt. In wenigen Minuten wird sie vor ihm stehen, real, aus Fleisch und Blut.

Der eigene Mut erstaunt ihn, diese Begegnung herbeigeführt zu haben. Dann kehrt das Gefühl der Hilflosigkeit wieder, das er seit der Begrüßung auf dem Bahnsteig empfand. Wie soll es nun weitergehen? Soll er auf dem Weg zum Restaurant, vielleicht im Aufzug, so nebenher fragen: „Wollen wir nach dem Tee ficken? Oder wäre Dir ein Spaziergang im Regen lieber?“

Natürlich wird er sie das nicht fragen. Und unter keinen Umständen wird er das Wort ficken benutzen. In der anonymen Welt des Literaturforums hatten sie nach anfänglichem Zögern Tabuvokabeln wie ficken oder vögeln für bestimmte Texte akzeptiert. Sie hatten sie jedoch niemals für die Beschreibung eigenen Handelns oder eigener Absichten benutzt. Diese Sprache blieb der distanzierten Perspektive des literarischen Autors vorbehalten, wenn es um die Authentizität bestimmter Situations- oder Milieuschilderungen ging. Sie selbst hatten sich in ihren Mails stets vertrauter Umschreibungen bedient, wie Zärtlichkeiten austauschen oder miteinander schlafen.

Er wird Ilona auch nicht fragen, ob sie nach dem Tee mit ihm schlafen wolle. Er wird nichts dergleichen fragen.

Bauer horcht in sich hinein, versucht vergeblich, eine Nachricht seiner paralysierten Männlichkeit zu empfangen.

Ergeht es Ilona ähnlich?

In einer E-Mail hatte sie geschrieben: „Liebling! Weißt Du, was das Schönste für mich wäre? Wenn ich es schaffen würde, bei unserem Treffen so viel Vertrauen zu fassen, dass ich mich fallen lassen könnte und es so wäre, wie Du es beschrieben hast! Ich würde gerne Zärtlichkeiten mit Dir tauschen. Aber ich habe Angst vor der Begegnung mit Dir, Angst etwas falsch zu machen.“

Ilona kommt aus dem Bad. Sie trägt ein buntes Sommerkleid mit weitem Rock. Der Stoff ist dünn und leicht und bewegt sich über ihren Beinen. Mitten im Zimmer bleibt sie stehen. Sie hält einen Bügel mit ihrer Jacke in der Hand und sieht sich suchend nach einer Garderobe um.

Bauer springt vom Bett.

„Hier ist der Schrank ..., oder vielleicht da, die Garderobe, bis die Jacke trocken ist.“

Sie lächelt ihn unvermittelt an. Etwas Forschendes ist in ihrem Blick und etwas Unsicherheit. Wie muss ihr zumute sein?

Aber sie steht vor ihm wie der strahlende Frühling und lächelt. Bauer kommt sich zerknautscht vor. Der Kaffee wird ihm Aufschub verschaffen.

„Gehen wir?“

Sie stehen sich im Aufzug gegenüber. Bauer weiß in Aufzügen nie, wo er hinsehen soll. Die Wände sind zu nah, sie begrenzen das Blickfeld. Sie sind nur zu ertragen, wenn eine Speisekarte den Blick einfängt oder eine Verhaltensanleitung für Aufzugsnotfälle. Er hält es für aufdringlich, andere Passagiere aus der erzwungen kurzen Distanz anzusehen. Auch Ilona möchte er nicht irritieren.

Er blickt auf ihre Schuhe. Sie trägt leichte Sommerschuhe in einem warmen Grün. Ist grün jetzt modern?

„War die Reise...?“

„... ich sagte bereits...“

„Oh, ja...,“ er sieht wieder auf ihre Schuhe, dann auf seine eigenen, „... man ist schnell mit dem ICE.“

„Ja, zwei Stunden. Es geht wirklich schnell.“

Als sie den Aufzug verlassen, berührt er ihre Hand. Es ist nur eine flüchtige, unbeabsichtigte Berührung, die er als Sakrileg empfindet. Es ist wie ein kleiner elektrischer Schlag, der durch seinen Körper zuckt. Ilona lächelt und streift ihn mit ihrer Schulter.

Bauer fühlt sich vierzig Jahre zurückversetzt. Sie sieht mir an, wie verlegen ich bin, denkt er, bestimmt bin ich rot im Gesicht. Nun spürt er förmlich, wie ihm das Blut in den Kopf schießt.

Sie ist Ilona, das Internetwesen, die Schneeperle. Er ist verliebt. Ihre Gedanken hatten sich ausgetauscht, die Produkte ihrer Gehirne hatten sich ineinander verwoben. Er kannte die fremde Frau an seiner Seite wie keine andere.

Eine Mail fiel ihm ein, die er vor wenigen Tagen von Ilona erhalten hatte: „Liebling, Dich plagt die Angst, zu versagen, aber mich bedrückt die Sorge, dass ich nicht weiter dieses zärtliche Empfinden für Dich bewahren könnte, weil wir bei unserer Begegnung vielleicht irgend etwas falsch machen und unser Gefühl füreinander stirbt. Davor habe ich Angst, Liebling, nicht davor, dass Du vor Aufregung versagen könntest...“

In ihren gemeinsamen Vorstellungen hatten sie längst miteinander geschlafen, er hatte sie liebkost und kannte ihre intimsten Geheimnisse. Bauer hatte sich danach gesehnt, sie endlich zu berühren, ihre Haut zu berühren, wirklich und real.

*


Nun sitzt er da wie versteinert, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen und unfähig, sich fallen zu lassen, wie Ilona geschrieben hatte.

Schneeperle sitzt ihm real gegenüber. Sie ist ein lebendiges Wesen mit fremden Augen, die die vertrauten Gedanken verbergen, die Worte und Sätze, die sich auf der Datenautobahn mit Bauers Sehnsucht verschmolzen hatten.

Der Kellner bringt den Tee. Als Bauer nach dem Zucker greift, erfasst Ilona Bauers Hand. Bauer hält inne. Wieder durchzuckt ihn dieses elektrisierende Kribbeln.

Beide Hände sinken auf die Tischplatte und halten sich fest. Bauer erwidert Ilonas ruhigen Blick. Sie wirkt entspannt.

Ihr Blick scheint gelassene Zufriedenheit mit der Situation widerzuspiegeln. Keine Fragen, keine Wünsche, kein Ziel, als wolle sie sagen: Ich bin glücklich. Es macht mich glücklich, mit Dir hier zu sitzen, mit Dir Tee zu trinken, Dich anzusehen, mit Dir zu schweigen.

„Bist Du‘s, Liebling?“, fragt Bauer.

„Ja, Liebling, ich bin‘s.“

Sie halten schweigend ihre Hände. Dann zieht Ilona Bauers Hand langsam zu sich und berührt sie zärtlich mit ihren Lippen. Sie küsst den Handrücken, dreht die Hand langsam um und küsst die Innenseite. Dabei sieht sie Bauer aufmerksam und fragend an.

Bauer beginnt das Spiel zu erwidern und streichelt sanft über Ilonas Wange. Sie lässt die Hand gewähren. Schließlich neigt sie ihren Kopf in Bauers geöffnete Hand, als suche sie deren Obhut. Wie ein kleiner, spitzbübischer Kobold sieht sie zu Bauer hoch und wiederholt:

„Ja, Liebling, ich bin es.“


Veröffentlicht in:
Love Love Love Liebe auf den ersten Blick,
im Fischer Taschenbuch Verlag,
Hanna Pfäfflin / Sylvia Spatz (Hrsg.),
ISBN 3-596-14971-1, DM 12,--


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