An den im Mai 1936 in Paris ausgerufenen Streiks beteiligen sich auch die viertausend Mitarbeiter Coco Chanels. "Ein Sitzstreik auf meinen Kleidern...", klagt sie mit ihrer Papageienstimme. "Das ist eine Idee aus den Vereinigten Staaten, ein Sitzstreik! Frauen auf ihrem Hintern, das ist obszön! Und kommen Sie mir nicht mit den Gehältern. Meine Gehälter sind völlig in Ordnung, bezahlter Urlaub noch dazu!" Aber nach heftigen Auseinandersetzungen muss sie sich auf die Forderungen der Streikenden einlassen. Verständnis bringt sie dieser Entwicklung nicht entgegen.
Im Frühjahr 1939 stellt sie noch einmal eine neue Kollektion vor, aber als Frankreich am 3. September dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, entlässt sie die Näherinnen, beendet ihre Tätigkeit als Modeschöpferin und führt lediglich die Boutique weiter -- wozu sie aufgrund der Vereinbarungen mit den Gebrüdern Wertheimer verpflichtet ist.
Sie argwöhnt, dass sie bei dem Vertragsabschluß über die Vermarktung ihrer Parfums übervorteilt worden sei, und ein von ihr beauftragter Anwalt versucht, die Abmachungen zu ändern -- vergeblich. Eine neue Gelegenheit dafür sieht Coco Chanel, als die Deutschen große Teile Frankreichs besetzen und von Juden geführte Unternehmen beschlagnahmen, doch Paul und Pierre Wertheimer haben ihre Anteile rechtzeitig einem französischen Flugzeugfabrikanten überschrieben und sich nach New York abgesetzt.
Niemand ist darüber wütender als Coco Chanels neuer Liebhaber, der dreizehn Jahre jüngere Hans Gunther Baron von Dincklage, ein Attaché der deutschen Botschaft in Paris, der vielleicht auch als Spion für die Nationalsozialisten arbeitet.
Als der Deutsche erfährt, dass sich Coco Chanel und Winston Churchill kennen, bringt er seine Geliebte auf eine Idee: "Du musst versuchen, ihn wiederzusehen und für deutsch-englische Geheimgespräche über einen Separatfrieden zu gewinnen. Wenn du ihn wenigstens dazu überreden kannst, zuzuhören..."
Coco Chanel sieht die Chance, etwas für den Frieden zu tun; vielleicht hält sie es auch für opportun, mit einflußreichen Deutschen zusammenzuarbeiten.
Baron von Dincklage weiht Rittmeister Theodor Momm ein. Der stellt die richtigen Kontakte her, und tatsächlich interessiert sich SS-Obersturmführer Walter Schellenberg, der Leiter des Auslandsnachrichtendienstes im Reichssicherheitshauptamt, für den Vorschlag.
Coco Chanel erinnert sich an ihre frühere Mitarbeiterin und Freundin Vera, die ebenfalls zu Winston Churchills Freundeskreis gehört hat: Im Oktober 1943 schreibt sie der inzwischen mit einem antifaschistischen Italiener in Rom verheirateten Engländerin: "Ich will mich wieder an die Arbeit machen, und ich möchte, dass Sie mir helfen. Tun Sie genau, was der Überbringer dieser Nachricht von Ihnen verlangt. Kommen Sie so schnell wie möglich! Vergessen Sie nicht, dass ich voller Freude und Ungeduld auf Sie warte."
Vera ist misstrauisch, zumal ein deutscher Offizier den Brief überbringt, denn ihr Mann hält sich verborgen, und die Nationalsozialisten könnten sie als Geisel missbrauchen, um ihn aus seinem Versteck zu locken: Sie sträubt sich, Rom zu verlassen -- aber sie wird kurzerhand verhaftet und zweieinhalb Wochen später von SS-Angehörigen nach Paris gebracht.
Die beiden Damen reisen nach Madrid, um zunächst mit dem englischen Botschafter Kontakt aufzunehmen. Heimlich sucht Vera ihn als erste auf, verrät ihm den Plan, und er verspricht, ihr zu helfen, damit sie bis zum Kriegsende in Spanien bleiben kann.
Am 16. Dezember 1943 wird bekanntgegeben, dass Winston Churchill -- der seit der Konferenz von Teheran in Marrakesch eine Lungenentzündung auskuriert -- ernstlich erkrankt sei und bis auf weiteres keine Besucher empfangen könne.
Die Operation "Modellhut" ist gescheitert. Coco Chanel kehrt allein nach Paris zurück.
Andreas Baader versucht Waffen zu beschaffen, aber ein Spitzel des Verfassungsschutzes lockt ihn dabei am 3. April 1970 in eine als Verkehrskontrolle getarnte Falle der Polizei.
Gudrun Ensslin will ihn aus dem Gefängnis in Berlin befreien und drängt Ulrike Meinhof, mitzumachen: Sie wirft ihr vor, Schreiben genüge nicht -- und die Journalistin, die ohnehin am Sinn ihrer Arbeit zweifelt, glaubt ihr. Gemeinsam arbeiten sie einen Plan aus: Der Verleger Klaus Wagenbach behauptet in einem Brief an die Haftanstalt, dass Andreas Baader an einem Buch Ulrike Meinhofs über "randständige" Jugendliche mitarbeitet, und diese ersucht die Gefängnisleitung, dem Häftling zu gestatten, mit ihr zusammen im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen wissenschaftliches Material durchzuarbeiten.
Tatsächlich begleiten zwei Beamte den Strafgefangenen am 14. Mai 1970 zu der Villa, in der das Institut untergebracht ist.
Als sie eintreffen, sitzt Ulrike Meinhof bereits im Lesesaal. Sie fragt die Beamten, ob sie verheiratet sind, Kinder haben -- und scheint über die bejahende Antwort irritiert zu sein.
Kurze Zeit später klingeln zwei junge Frauen, die ebenfalls in den Lesesaal möchten, aber von dem 62 Jahre alten Institutsangestellten Georg Linke zurückgehalten werden und daraufhin in der Eingangshalle Platz nehmen -- angeblich um dort zu arbeiten.
Nachdem Georg Linke in sein Büro zurückgekehrt ist, öffnen die beiden Frauen die Außentüre; Gudrun Ensslin stürmt mit einem Begleiter herein -- beide vermummt. Plötzlich steht Georg Linke vor ihnen. Der Vermummte schießt: Die Kugel durchschlägt den Oberarm des Institutsmitarbeiters und bleibt in seiner Leber stecken. Während der Getroffene zusammensackt, stürmen der Schütze und die drei Frauen in den Lesesaal, feuern Gaspistolen ab. Die Beamten stellen sich in den Weg, schießen, können aber nicht verhindern, dass Andreas Baader und seine Befreier durch das geöffnete Parterrefenster entkommen.
Ulrike Meinhof sollte im Institut zurückbleiben und sich vor den Kriminalbeamten überrascht zeigen. Es wäre kaum möglich gewesen, ihr eine Komplizenschaft nachzuweisen -- und die 35-Jährige hätte ihren publizistischen Kampf weiterführen können. Doch sie flieht mit den anderen. "Mit ihrem Satz aus dem Fenster an diesem 14. Mai sprang Ulrike Meinhof nicht nur 1,50 Meter tief auf den Rasen, sondern zugleich auch von ihrem sicheren Tribünenplatz als Journalistin in die Arena. Es ist die Geburtsstunde der RAF." Die Rote Armee Fraktion entsteht nicht aufgrund eines durchdachten Plans, sondern als Zufallsergebnis eines missglückten Verbrechens...
Leseproben: © Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Zehn Portraits
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